Fledermaus-Idyll in Wallersdorf
Ursula Raatz lebt in einem fledermausfreundlichen Haus. Was das bedeutet und wieso sie sich für fliegende Säugetiere einsetzt.
WALLERSDORF - Am Ortsrand von Wallersdorf, mitten in einem üppig blühenden Gartenareal von 1200 Quadratmetern, steht ein hell gestrichenes Haus. Ganz versteckt in seinen Rollladenkästen leben dort in jedem Sommer seit einigen Jahren Fledermäuse und sie scheinen sich dabei recht wohlzufühlen. Ursula Raatz ist Eigentümerin dieser Idylle, vor Kurzem überreichte ihr Thomas Steinke, Leiter der Fledermausschutz AG des NABU Vogelsberg, eine Urkunde und eine Plakette als Auszeichnung für ein "Fledermausfreundliches Haus".
In diesem Zusammenhang bedankte sich Thomas Steinke bei der Naturliebhaberin insbesondere für deren Umsicht und für ihren Respekt, den Ursula Raatz diesen einzigen fliegenden Säugetieren entgegenbringt.
Beim Eintritt auf das Grundstück springt als Erstes das Garagentor ins Auge, das Ursula Raatz selbst künstlerisch gestaltet und bemalt hat. Leuchtende Hecken säumen den Rand zur Straße, ein Emailleschild an der gusseisernen Gartentür macht deutlich, dass hier bereits mehrmals sogenannte "Tage des offenen Gartens" stattfanden. Duftende englische Rosen, Blumen wechseln ab mit zu verschiedenen Jahreszeiten blühenden Bäumen, Sträuchern und Stauden. "Schaffen Sie das alles allein?", wird die 75-Jährige häufig gefragt. In der Tat sind das nicht nur Haus und Garten, ebenfalls bietet Ursula Raatz auch Pilgern des in der Nähe vorbei führenden Lutherweges eine Herberge. An vielen Stellen in dem dazu gehörigen Gästebuch kann man originelle Dankesworte finden, aus ganz Deutschland, aus Österreich, Holland, Spanien. Manche Postkarte, manches Foto, das die Gäste von ihrem Garten gemacht haben, finden ebenfalls ihren Weg zur "liebevollen Gastgeberin, die uns nach langem Marsch so freundlich aufgenommen und bewirtet hat". Ursula Raatz hat mit ihrem Wahlspruch von Goethe eine Prämisse in ihrem Leben gesetzt: "Wer nichts für andere tut, tut nichts für sich."
Kochen, Backen, selbst gezogenes Gemüse und Obst aus dem eigenen Garten verarbeiten, einfrieren oder einwecken, Marmelade nicht nur aus Rosenblüten machen, stolz ist Ursula Raatz auf ihren Abschluss als Hauswirtschaftsmeisterin, durch den sie auch Praktikantinnen übernahm. "Für mich eine Ausbildung, die mir viel im Leben und im eigenen Familienhaushalt geholfen hat". Von Geburt an ist das Leben auf dem Land fest in ihrer starken Persönlichkeit verankert. Geboren und aufgewachsen in einer Großfamilie ist sie in einem kleinen Dorf bei Bad Arolsen in Nordhessen. Eine Schafherde gehörte zu dem großen Bauernhof wie Hühner, Milchkühe, Zuchtsauen, Arbeitspferde. Letztere wurden später zunächst durch einen Lanz-Bulldog, danach durch einen Hanomag ersetzt. Zur Selbstversorgung gab es einen Gemüsegarten, auf 50 Hektar Land wurden Getreide, Zuckerrüben, Dickwurz, Kartoffeln und Kohl angepflanzt. Großvater wendete das Heu mit den Pferden, so manches Mal lenkte seine kleine Enkelin Ursula das Gespann mit Erntewagen allein aufs Feld.
Mit 17 wurde die Lehrzeit als Hauswirtschaftsgehilfin in der Mühle von Müllermeister Buck in Frielendorf früher als vorgeschrieben erfolgreich beendet. Die damalige Chefin begleitete ihren "Schützling" 1963 persönlich zur Festanstellung in der Familie des Freiherrn Burkhard von Dörnberg. Hier im "Hof Huhnstadt", der zu Breitenbach am Herzberg gehört, "begann für mich eine überaus glückliche Zeit". Wenn auch so einiges anders war als gewohnt. Während ihrer Ausbildungszeit in der Frielendorfer Mühle hatte Ursula Raatz in einer Einbauküche auf damaligem modernsten Stand gearbeitet. Geschirrspüler, Waschmaschine, elektrischer Herd gehörten dazu. Beim erstmaligen Betreten der weiträumigen Küche im Hof Huhnstadt musste sie dann doch ein wenig schlucken. In der Mitte stand ein mächtiger alter Kohleherd, der jeden Morgen angeheizt werden musste. "Auf dem wird gekocht, gebraten und zubereitet, zum Backen gibt es eine Backhaube", erklärte Baronin Annemarie, die Ursula Raatz in sehr zugewandter und stets hilfsbereiter Erinnerung hat. Gemeinsam bügelten die beiden Berge von Wäsche, die bei der Raiffeisen in Breitenbach gewaschen wurde, gemeinsam spülten und trockneten sie täglich das anfallende Geschirr mit der Hand. In der Mittagspause führte Ursula Raatz den Deutsch-Drahthaar-Rüden Caro aus. Acht Erwachsene, des Öfteren kamen Gäste dazu, waren mit Frühstück, Mittag- und Abendessen zu versorgen. Unter ihnen Siegfried Raatz, der damalige zuständige Förster der Waldungen des Freiherrn von Dörnberg, 1965 trat der Forstmann mit Ursula in der Kirche von Breitenbach vor den Traualtar. Eigentlich hatte er zu dieser Zeit beschlossen, sich beruflich einen neuen Wirkungskreis zu suchen. "Wenn Sie hier bleiben, bekommen Sie ein eigenes neues Forsthaus gebaut", versprach ihm Baron Burkhard. Ehepaar Raatz blieb, das Versprechen wurde eingelöst. Etwas abseits, mitten in der Natur entstand das neue Heim, eingezogen wurde nach der Hochzeit im Juli 1965. Im März 1966 war die letzte Hürde genommen: "Endlich Wasser aus der Leitung!" Bis dahin hatte man sich mithilfe von einem großen Fass versorgt, im harten und schneereichen Winter wurde Wasser in Milchkannen vom Nachbarn heim geschleppt. Zum Baden ging es entweder zu einer anderen Försterfamilie oder zur Apotheke in Breitenbach.
Die Familie wuchs, zwei Söhne wurden geboren, ein VW-Käfer stand ein für alle und alles, nicht nur deswegen musste straff organisiert werden. Kindergarten gab es nicht, später mussten die Jungen täglich zur Schule gefahren werden oder beispielsweise ein paar Kilometer zum Konfirmationsunterricht, zu den Großeinkäufen fuhr man nach Alsfeld, um nur einiges zu nennen. Wobei Ehemann Siegfried anfangs auf Norweger-Pferd "Bubi" weite Entfernungen in seinem Revier zurücklegte. Zu versorgen waren Gemüse- und Obstgarten sowie eine ganze "Arche Noah". Dazu gehörten Jagdhunde, renommiert und weithin bekannt waren die Terrier- und die Langhaardackelzucht. Hühner und Puten gingen auf der Weide. Recht gemütlich machten es sich die schwer gewichtigen Truthühner, tagtäglich flogen sie auf den Rücken der beiden Esel "Bim" und "Schöppchen" und schaukelten dort besinnlich etliche Stunden vor sich hin. "Schöppchen" verbrachte im Übrigen seinen Lebensabend im Forsthaus, nachdem er von der Riedesel'schen Brauerei in Lauterbach in den Ruhestand geschickt worden war.
Eines Tages kam eine Freundin zu Besuch und fragte: "In unserem Dorf gibt es gar keinen Verein für Frauen, sollen wir nicht mal einen gründen?" Gute Idee, fand Ursula Raatz, die schon bald darauf für die folgenden 22 Jahre zur Vorsitzenden des damals neu gegründeten. "Landfrauenverein Breitenbach/Herzberg" gewählt wurde. 25 Mitglieder waren es zu Beginn, später waren es über 50, von denen viele wie Ursula Raatz als Sängerinnen bei den bekannten "Herzberg-Lerchen" aktiv waren. Geselligkeit war ein Schwerpunkt des Landfrauenvereins, das Organisieren von internen Festen und Festlichkeiten in der eigenen Tracht ein anderer. Zum größten Teil gestaltet wurde die 700-Jahr-Feier von Breitenbach am Herzberg mit stehendem Festzug, Ständen und mit einem Café. Des Weiteren pflegten und bepflanzten die Landfrauen in sämtlichen Ortsteilen von Breitenbach öffentliche Anlagen, unter anderem auf Friedhöfen und an Ehrenmalen. Viele Referenten aus verschiedenen Bereichen wurden eingeladen zu Vorträgen, Vereinsmitglieder wurden teilweise zu Fachfrauen in unterschiedlichen Themenbereichen ausgebildet und gaben ihr Wissen an andere weiter. Unvergesslich Theaterbesuche in Gießen oder Kassel, unvergesslich die muntere Abteilung, in der Ehepaare ihrem Spaß am Tanzen nachgehen konnten.
1994 erkrankte Siegfried Raatz schwer, es erfolgte der Umzug in den in der Zwischenzeit erstellten "Altersruhesitz" in Wallersdorf. Kurz darauf starb der Förster im Alter von 60 Jahren. Ehefrau Ursula gestaltete alles Weitere in Haus und Garten in seinem Sinne. Maßgeblich beeinflusst sie bis heute dabei ihre Liebe zu Natur, Flora und Fauna.
"Wenn ihr durch den Wald geht, Augen und Ohren offen, tief einatmen, Mund zu!", so hatte es in der zweiklassigen Volksschule in Nordhessen der strenge Lehrer Ursula Raatz und ihren Klassenkameraden und Klassenkameradinnen mit auf den Lebensweg gegeben. Worte, die zu einem Prinzip wurden für die humorvolle und agil wirkende Dame, die noch mit 50 ihren Jagdschein machte. Bis heute ist sie Mitglied im Teckelverein Alsfeld, für den sie unter anderem interessant gestaltete Naturwanderungen durchführte. Über fünf Jahre unterstützte sie als Geschäftsführerin mit akribischer Genauigkeit den "Jagdverein Alsfeld". Alles in gestochener Handschrift, ganz so wie sie unzählige Aufzeichnungen aus ihrem Familienleben bestückt und mit Erinnerungsfotos akkurat und übersichtlich geordnet hat. Alles wird weiter gegeben, mit Sorgfalt, immer mit einem Lachen. Auf den Punkt scheint es der Eintrag eines Pilgers im Gästebuch getroffen zu haben: "Liebe Frau Raatz, Ihre optimistische Sicht der Dinge gibt einem etwas mit auf den Weg, was bleibt."
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